Verbraucher sehen Chance gegen facebook. BGH wendet erstmals neues Leitentscheidungsverfahren bei Massenklagen an

Worum geht es hier im Einzelnen? Das massenhafte Einklagen von gleichgelagerten Ansprüchen im Wege einzelner Verfahren, wie etwa im sogenannten Diesel-Skandal oder wegen unzulässiger Klauseln in Fitnessstudio-, Versicherungs- oder Bankverträgen, hat stark zugenommen, wie das Bundesjustizministerium (BMJ) feststellt. Diese Verfahren betreffen häufig gleiche rechtliche Streitfragen. Derartige Massenverfahren mit oftmals tausenden Klägern bedeuten eine erhebliche Herausforderung für die Justiz. Denn solange die gleichlautenden rechtlichen Fragen noch nicht durch den Bundesgerichtshof geklärt wurden, laufen die meisten dieser Verfahren bis zur letzten Instanz.

Sind sie beim Bundesgerichtshof angekommen, lässt sich eine höchstrichterliche Entscheidung allerdings noch „verhindern“, indem das Revisionsverfahren von den Parteien etwa durch eine Rücknahme oder einen Vergleich beendet wird. Ohne eine solche höchstrichterliche Klärung werden die Instanzgerichte jedoch immer wieder mit neuen Verfahren zu gleichgelagerten Sachverhalten belastet, wie das BMJ erläutert. Das verlängere die Verfahrensdauer in den einzelnen Verfahren und belaste die Gerichte unnötig, so das Ministerium. Mit dem Leitentscheidungsverfahren soll der BGH nun eine neue Möglichkeit erhalten, grundsätzliche Rechtsfragen in Massenverfahren auch dann zu entscheiden, wenn die Parteien das Verfahren anderweitig beendet haben. Er trifft die Entscheidung dann als neuartige Leitentscheidung.

Gleichlautende Verfahren zügig entscheiden

Sind die entscheidungserheblichen Rechtsfragen durch den Bundesgerichtshof höchstrichterlich geklärt, können gleichlautende Verfahren, die bei den Instanzgerichten noch anhängig sind, dann anhand dieser Leitentscheidung ohne Weiteres zügig entschieden werden, so das Prinzip hinter der Leitentscheidung. Sie ist zwar juristisch formal nicht bindend und hat auch keine Auswirkungen auf konkrete Revisionsverfahren, soll jedoch den Instanzgerichten und der Öffentlichkeit als Richtschnur und Orientierung dafür dienen, wie die Entscheidung der Rechtsfragen gelautet hätte. Das trage zur Rechtssicherheit bei und führe gleichzeitig dazu, die Gerichte von weiteren Klagen zu entlasten, betont das Bundesjustizministerium. Auch der Verbraucherzentrale Bundesverband (Vzbv) erwartet von der Einführung des Leitentscheidungsverfahrens beim Bundesgerichtshof mehr Rechtssicherheit bei betroffenen Verbrauchern, eine höhere Effizienz nachfolgender gerichtlicher Verfahren und eine Entlastung der Gerichte von individuellen Entscheidungsfindungen.

Im Fall des facebook-Datenklaus will der BGH jetzt für viele vergleichbare Fälle darüber befinden, ob den betroffenen Nutzerinnen und Nutzern Anspruch auf Schadenersatz zusteht. Die bzw. deren Rechtsvertreter argumentieren, die Sicherheitsvorkehrungen von facebook gegen das sogenannte Scraping seien nicht ausreichend gewesen. Unter Scraping versteht man das Auslesen von Texten auf Computerbildschirmen. Diese Methode nutzen z. B. Vergleichsportale, um Daten zu sammeln und dann auszuwerten, wie die Computerwoche erläutert. Facebook rechtfertigt sich denn auch damit, dass bei dem Leck Daten abgegriffen worden seien, die von den Nutzern selbst veröffentlicht wurden und von anderen Mitgliedern oder zumindest ihren Kontakten einsehbar waren. Das soziale Netzwerk bestreitet nach wie vor, bei dem Datenklau, um den es vor dem BGH geht, Opfer eines erfolgreichen Hackerangriffs geworden zu sein.

Persönliche Daten im Internet

Beim facebook-Fall hatten Unbefugte eine Funktion zur Freunde-Suche in dem sozialen Netzwerk genutzt, um Daten von rund 533 Millionen Nutzerinnen und Nutzern aus 106 Ländern abzugreifen. Diese fanden sich anschließend öffentlich im Internet wieder: wie unter anderem Namen, Handynummern, Nutzer-ID, Geschlecht, Land, Wohnorte, Arbeitgeber etc… Daraufhin hatten viele Betroffene Schadenersatz vor Gericht verlangt. Die Instanzgerichte entscheiden hierzu bislang recht unterschiedlich und interpretierten die zugrunde liegende Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs (EuGH) dabei ebenfalls heterogen. Nach Auskunft der Bundesrechtsanwaltskammer sollen Tausende Klagen zu dem Thema vor den deutschen Land- und Oberlandesgerichten anhängig sein, wie das Handelsblatt berichtet. Auch dem BGH liegen demnach mehrere Revisionen zur Entscheidung vor.

Das oberste deutsche Gericht muss nun höchstrichterlich klären, ob allein der Verlust der Kontrolle über die abgegriffenen Daten einen Schaden im Sinne der Datenschutzgrundverordnung (DSGVO) bedeutet oder ob dafür weitere erhebliche Beeinträchtigungen notwendig sind. Zu dieser zentralen Frage bezog der BGH in einer mündlichen Verhandlung zum Facebook-Datenleck jüngst bereits eine eindeutige Position mit der Feststellung, der reine Kontrollverlust über personenbezogene Daten sei für sich genommen ein Schaden nach der DSGVO. Damit beende der Bundesgerichtshof bisherige Rechtsunsicherheit und gebe den unteren Gerichten eine klare Leitlinie vor, begrüßten in das Verfahren involvierte Anwälte wie Christian Solmecke von der Kölner Kanzlei WBS.LEGA die Einschätzung der Karlsruher Bundesrichter. Solmecke sprach von einem „großartigen Tag nicht nur für Betroffene des Facebook-Datenlecks, sondern für Verbraucher und den Datenschutz generell“.

Damit ist jedoch noch kein Urteil gesprochen. Dieses soll dem Vernehmen nach kurzfristig folgen, da Ende 2024 die Verjährung droht. Die bisherige Sicht des BGH auf die Vorgänge beim facebook-Datenklau macht den Betroffenen allerdings Mut.

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